Der WHO-Pandemievertrag stellt die Militarisierung der Gesundheitspolitik auf Dauer

4. 05. 2025 | Dass ein Generalmajor den Corona-Krisenstab der Bundesregierung leitete, war ein Signal, dass die zuvor schleichende Militarisierung der Gesundheitspolitik in der Corona-Krise einen Niveausprung vollzogen hat. Der geplante WHO-Pandemievertrag würde diese Militarisierung der öffentlichen Gesundheit verrechtlichen und verstetigen, kritisiert Amrei Müller vom University College Dublin in diesem Gastbeitrag.

Amrei Müller.* In einer Pressemitteilung vom 16. April 2025 gab die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bekannt, dass sich die Mitgliedstaaten nach dreijährigen Verhandlungen auf einen Text des neuen Pandemievertrags geeinigt hätten. Der Vertrag soll der 78. Weltgesundheitsversammlung, die am 17. Mai beginnt, zur Annahme vorgelegt werden und danach für die Staaten zur Unterzeichnung offenstehen. Sobald 60 Staaten den Vertrag ratifiziert haben, tritt er in Kraft. Die WHO hat den endgültigen Text des neuen Pandemievertrags noch nicht veröffentlicht. Eine inoffizielle, noch nicht redigierte Version ist allerdings im Internet auffindbar.

Die Verhandlungsführer begrüßten die Einigung auf den Text als „einen wichtigen Schritt zur Stärkung der globalen Gesundheitssicherheitsarchitektur, die die Menschen weltweit besser vor der nächsten Pandemie schützen wird.“ Mit dem Verweis auf die Gesundheitssicherheit folgen sie der Rhetorik des WHO-Generaldirektors, der Gesundheit regelmäßig als ein „Sicherheitsthema“ bezeichnet.

Und tatsächlich: zusammen mit den Änderungen der Internationalen Gesundheitsvorschriften (IGV), die schon im Juni 2024 von der Weltgesundheitsversammlung verabschiedet wurden, wird die Annahme des Pandemievertrags das internationale Pandemierecht und damit die globale und nationale Pandemiepolitik weiter militarisieren. Dies verrechtlicht und verfestigt militarisierte Ansätze und Vorgehensweisen, die wir aus der Coronazeit kennen.

Diese Ansätze stammen aus der Biokriegsführung und Biogefahrenabwehr und sind von der Globalen Gesundheitssicherheitsdoktrin (Global Health Security)  geprägt. Sie verstehen Krankheitserreger und kranke Menschen und Tiere als „biologische Risiken“, deren Auftauchen einen „Gesundheitsnotstand“ darstellen kann, der über Gegenmaßnahmen rasch kontrolliert und bekämpft werden muss. Diese Gegenmaßnahmen beinhalten Lockdowns und andere soziale Kontrollmaßnahmen, biomedizinische Überwachung, Informationskontrolle und Massenimpfkampagnen mit notfallzugelassenen „Pandemieprodukten“. Diese Doktrin haben Siliva Behrendt und ich in einem Fachaufsatz eingehend analysiert. Einige Beispiele zu relevanten Bestimmungen im geplanten Pandemievertrag folgen.

Ständige globale biomedizinische Überwachung

Um Krankheitsausbrüchen vorzubeugen will der Pandemievertrag in Artikel 4 Staaten dazu verpflichten ständige umfassende Bioüberwachungsmaßnahmen durchzuführen. Dadurch sollen Erreger mit Pandemiepotential aufgespürt, eine Risikobewertung vorgenommen und genomische Sequenzierungen bestimmt werden. Basierend auf dem in Artikel 5 angeführten One-Health-Konzept soll das Bioüberwachungssystem auch die Schnittstelle Mensch-Tier-Umwelt mit einbeziehen. Dadurch sollen sogenannte zoonotische Übertragungsereignisse („spill-over events“) schnell entdeckt werden. Konkret bedeutet dies einen beträchtlichen Ausbau von Labor- und Diagnosekapazitäten für die Staaten und entsprechende Investitionen (Art.6, Abs.2e).

Unter den IGV, die mit dem neuen Pandemievertrag zusammenwirken, müssen Ergebnisse der Überwachungstätigkeiten unter Umständen an die WHO weitergeleitet werden (Art.5 u. 6 IGV und Anhänge 1 u. 2). Dies kann dazu führen, dass der WHO-Generaldirektor und ein von ihm eingesetzter Notfallausschuss einen Gesundheitsnotstand von Internationaler Trageweite (Public Health Emergency of International Concern (PHEIC)) unter den IGV ausruft. Dies wiederum ermöglicht es dem Generaldirektor, den Staaten weitreichende Empfehlungen zu medizinischen und nicht-medizinischen Gegenmaßnahmen zu geben, einschließlich dem Gebrauch „relevanter Gesundheitsprodukte“. Dies ist beispielsweise während des Covid-19-PHEIC geschehen.

Aufgrund des beträchtlichen Umfangs der vorgesehenen globalen Überwachungstätigkeiten ist zu erwarten, dass in Zukunft sehr viel mehr Erreger mit (angeblichem) Pandemiepotential weltweit aufgespürt werden. Dies kann zu gehäufter Ausrufung neuer PHEICs und Pandemien führen. Des Weiteren ist es nicht ausgeschlossen, dass die aufgefundenen Erreger für umstrittene Gain-of-Function-Forschungsprojekte verwendet werden. Im Rahmen dieser Forschungen werden Viren neue, meist wenig kontrollierbare und damit gefährliche Eigenschaften verliehen um ‘der Natur voraus zu sein’ und präventiv Impfstoffe entwickeln zu können.

Der neue Pandemievertrag verlangt sogar den Auf- und Ausbau von Kapazitäten und Institutionen für die Forschung an Erregern mit Pandemiepotential und zur Entwicklung von „Pandemieprodukten“, sowie die rasche Durchführung klinischer Studien (Art. 9). Staaten sollen diese Aktivitäten nachhaltig über öffentliche Mittel finanzieren und öffentlich-private Partnerschaften mit dem Privatsektor zur Entwicklung von „Pandemieprodukten“ etablieren. „Pandemieprodukte” (Art.1(d)) oder “relevante Gesundheitsprodukte” sind nach dem 2024 gänderten Artikel 1 IGV Gesundheitsprodukte, die benötigt werden, um auf PHEICs zu reagieren. Dazu zählen unter anderem Arzneimittel, Impfstoffe, persönliche Schutzausrüstung und zell- und gentechnische Therapien. Die bereits existierende 100-Tage Initiative von CEPI (Coalition for Epidemic Preparedness Innovations) – einer der großen öffentlich-privaten Partnerschaften der WHO – die darauf abzielt in Zukunft im Falle eines Gesundheitsnotstands Impfstoffe innerhalb von 100 Tagen zu entwickeln, notfallzuzulassen und global zu verabreichen, kann in diesem Kontext relevant sein.

Rasche Notfallzulassungen

Der Pandemievertrag fordert von den Staaten, einen regulatorischen Rahmen im nationalen Recht zu schaffen, der die rasche Notfallzulassung von neuentwickelten, investigativen „Pandemieprodukten“ ermöglicht, insbesondere während eines vom WHO-Generaldirektor ausgerufenen PHEIC. Solche Verpflichtungen können zu einer weiteren Aufweichung von hart erkämpften medizinrechtlichen Standards führen, die die Sicherheit und Effektivität von Arzneimitteln sicherstellen sollen. Das gilt um so mehr, wenn, wie vorgesehen, bei intensivierter Bioüberwachung mehr Erreger aufgespürt werden und häufiger Notstände ausgerufen werden. Das kann wiederum bedeuten, dass Menschen in Zukunft öfter mit nicht vollumfänglich getesteten, notfallzugelassenen Medizinprodukten behandelt werden.

Dies ist auch vor dem Hintergrund zu verstehen, dass der WHO-Generaldirektor und die von ihm eingesetzte Notfallausschüsse unter den IGV direkt “relevante Gesundheitsprodukte” bzw. „Pandemieprodukte“ zur weltweiten Verabreichung empfehlen können, die für die Bekämpfung eines PHEIC als „relevant“ erachtet werden. Es ist zu erwarten, dass dies häufig Medizinprodukte sein werden, die von der WHO selber über ihr Emergency-Use-Listing-Verfahren eine globale De-facto-Notfallzulassung erhalten haben. Das ist problematisch, da das Emergency Use Listing sehr niedrige Anforderungen an pharmazeutische Unternehmen stellt, vorab klinische Studien durchzuführen. Es räumt der WHO und ihren Expertenkomitees einen sehr großen Ermessensspielraum ein und ist insgesamt sehr intransparent.

Risikokommunikation

Der militärische Ansatz zur Bekämpfung von „biologischen Risiken” wie Infektionskrankheiten beinhaltet auch die Informationskontrolle. Obwohl im Vergleich zu früheren Entwürfen des Pandemievertrags in weniger expliziter Form, enthält der Vertrag in der Präambel und in Art. 18 Verpflichtungen für die Staaten, die wissenschaftliche Kompetenz der Bevölkerung in Pandemiefragen durch effektive „Risikokommunikation” zu stärken. Dies beinhaltet wohl auch die Bekämpfung medizinscher Mis- und Desinformation durch Aktivitäten wie „Pre-Bunking“, „De-Bunking“ und Zensur, insbesondere weil der Vertrag zusammen mit den Änderungen der IGV vom Juni 2024 gelesen werden muss. Diese verpflichten die Staaten, nationale „Kernkapazitäten“ für die „Risikokommunikation, einschließlich Bekämpfung von Fehl- und Desinformation“ aufzubauen (Annex 1 zu den 2024 geänderten IGV, Absatz A(2)(c)(vi) and A(3)(i)). Wer bestimmt, was medizinische Mis- oder Desinformation ist, nach welchen Kriterien, für wie lange und wie sie bekämpft werden muss, bleibt weiterhin unklar.

Auch in Verhaltensforschung sollen die Regierungen investieren, um Faktoren zu ermitteln, die die Einhaltung medizinischer und nicht-medizinischer Maßnahmen und das Vertrauen in „die Wissenschaft” und Gesundheitsinstitutionen fördern oder aber unterminieren (Art 18(2) u. Art. 6(2)). Die WHO soll die Staaten dabei unterstützen, und kann damit ihr während des Covid-19-PHEIC beträchtlich ausgebautes Infodemie-Management Programm aktiv weiter betreiben. Konkret bedeutet dies, dass wir alle zunehmend mehr manipulativen Techniken zur Verhaltenslenkung in der Gesundheitspolitik ausgesetzt sein werden.

Fazit

Wie im Lichte früherer Entwürfe des Pandemievertrags zu erwarten war, militarisiert, technokratisiert und zentralisiert der neue Pandemievertrag den Umgang mit Infektionskrankheiten weiter. Der Weg, den man während des Covid-19-PHEIC eingeschlagen hat, wird damit fester im internationalen Pandemierecht verankert. Das beinhaltet, dass Staaten Verpflichtungen eingehen, die darauf abzielen, ihre Gesundheitssysteme weiter zu militarisieren, um sie „resilienter” in Gesundheitsnotständen zu machen, und dass Ressourcen hin zum Aufbau von Bioüberwachung sowie der Forschung an Erregern mit möglichem Pandemiepotential und der Entwicklung von „Pandemieprodukten” verschoben werden.

Ein weiterer Aspekt, den der neue Pandemievertrag weiter forciert, ist der einseitige Fokus auf Pandemieprodukte zur Bekämpfung von Infektionskrankheiten. Hierbei muss in erster Linie an Impfstoffe gedacht werden, da Massenimpfkampagnen nach den militarisierten Ansätzen als besonders wirksam in der Bekämpfung von „biologischen Risiken“ gelten. Ob diese Ansätze effektiv zum Schutz der öffentlichen Gesundheit weltweit beitragen – insbesondere auch in Niedriglohnländern mit jungen Bevölkerungen – wird nicht gefragt. Dabei müsste man im Angesicht der Erfahrungen, die während des Covid-19-PHEIC gemacht wurden, diese Fragen durchaus stellen. Die WHO und die meisten ihrer Mitgliedsregierungen haben die wirtschaftlichen, sozialen und gesundheitlichen Folgen der von der WHO empfohlenen militarisierten medizinischen und nicht-medizinischen Maßnahmen gegen Covid-19 nie gründlich untersucht und kritisch aufgearbeitet.

Es ist allerdings unstreitig, dass Aussicht auf die massiven Investitionen, die der neue Pandemievertrag (und die geänderten IGV) in die Forschung und Entwicklung, die Notfallzulassung, die globale Produktion, Verteilung, Lieferung und Verabreichung von „Pandemieprodukten“ spülen dürfte, die großen pharmazeutischen Unternehmen sehr freut. Diese sind unter anderem über große privat-öffentliche Partnerschaften sowohl mit der WHO als auch nationalen und regionalen Gesundheits- und Forschungseinrichtungen verbunden. Diese Verbindungen werden über den neuen Pandemievertrag weiter gestärkt. Der Vertrag enthält keine Bestimmungen ob und wie die WHO, ihre Mitgliedsstaaten, die privat-öffentlichen Partnerschaften oder aber pharmazeutische Unternehmen für Schäden, die ihre Pandemiemaßnahmen und -produkte hervorrufen, zur Verantwortung gezogen werden können.

Bevor die Staaten auf der Weltgesundheitsversammlung für den neuen Pandemievertrag stimmen, sollten sie innehalten und prüfen, ob die internationale Verrechtlichung militarisierter Ansätze zur Prävention und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten der richtige Weg ist, um die körperliche und geistige Gesundheit ihrer Bevölkerungen zu gewährleisten. Auch ob diese Ansätze mit staatlichen Schutzverpflichtungen unter den internationalen und regionalen Menschenrechtsverträgen, sowie dem nationalen Grundrechteschutz vereinbar ist, bedarf gründlicher Diskussion.

Dr. Amrei Müller* ist Assistenzprofessorin am University College Dublin, Sutherland School of Law in Irland. Ihre Forschungs- und Lehrtätigkeit konzentriert sich auf den Bereich des Europäischen und Internationalen Menschenrechtsschutzes sowie das humanitäre Völkerrecht.

Dieser Text ist eine frei zugängliche Version eine Beitrags, der zuerst in der Berliner Zeitung erschien.

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